Nun ist die Schulreform hoffentlich nicht mehr weit. Alle bisherigen politischen Versuche sind ja daran gescheitert, dass die kleinere der beiden Regierungsparteien keinen Standpunkt hatte. Und ohne Standpunkt kann man keine politische Diskussion führen, geschweige denn Entscheidungen treffen. Doch jetzt ist auch diese Hürde gefallen, die ÖVP hat endlich einen Standpunkt in Form eines “Bildungskonzepts”.
Wichtig ist dabei das Wort “Konzept”. Denn ein ausgereiftes Papier sieht anders aus. Dazu hat die ÖVP Monate gebraucht? Sechs zusammengeschusterte Seiten mit Aufzählungspunkten, wobei schon ab der zweiten Seite auf vollständige Sätze verzichtet wird, lassen den Schluss zu, dass das Bildungskonzept selbst maximal ein Konzept eines solchen, also ein Entwurf ist, quasi ein Bildungskonzeptkonzept. Dazu kommen viele zentrale, ungelöste Fragen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sich die ÖVP für dieses Konzept eigentlich noch mehr Zeit lassen wollte, aber der öffentliche Druck und der Druck der katastrophalen PISA-Ergebnisse dies nicht zuließen.
Wer es nicht glaubt, kann das Konzept gerne hier im Original nachlesen. Viel Zeit braucht man dazu nicht. Die ÖVP-Politiker haben offensichtlich mehr Energie in die Präsentation und die begleitenden Interviews investiert als in das Papier selbst.
Grundsätze
Doch schauen wir uns einmal die Knackpunkte im Detail an. Das Konzept beginnt mit einigen allgemeinen Grundsätzen.
Die Schule soll das Wohl des Kindes und die Wahlfreiheit in den Mittelpunkt stellen.
Die Eltern sind für die Erziehung und Ausbildung der Kinder verantwortlich und werden von der Schule in der Begleitung und Förderung ihrer Kinder unterstützt. Die partnerschaftlichen Aufgaben zwischen Schule und Eltern werden in einer Bildungsvereinbarung festgeschrieben.
Immer mehr Eltern scheitern bei der Erziehung ihrer Kinder. Man kann den Eltern dabei oft gar keinen Vorwurf machen. In einem Land, in dem seit Jahrzehnten zwar in allen politischen Programmen als Ziel die “Vereinbarkeit von Beruf und Familie” steht, diese Vereinbarkeit aber in der Praxis immer weniger gegeben ist, ist es die Politik, die hier versagt hat.
Der Staat, der diese Misere verursacht hat, darf sich nicht so leicht aus dieser Verantwortung stehlen. Wenn das Wohl des Kindes im Vordergrund stehen soll, aber gleichzeitig die Schule die alleinige Verantwortung auf die Eltern abschiebt, was machen wir mit dem guten Drittel an Kindern, bei denen die Eltern diese Verantwortung nicht wahrnehmen (können). Gilt für die der Grundsatz, dass das Wohl des Kindes im Vordergrund stehen soll nicht?
Ganztägige Schulformen
Weiter geht es mit dem Thema Schule in der Gesellschaft, wobei anscheinend die Betreuungsangebote im Vordergrund stehen.
Die Schule soll den geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung tragen und bedarfsorientiert flächendeckende, ganztägige Betreuungsangebote schaffen.
In ähnlicher Form findet man diesen Satz dann auch im Abschnitt zum Kindergarten:
bedarfsorientiertes flächendeckendes Angebot für alle drei- bis sechsjährigen Kinder;
Und auch die Volksschule darf da selbstverständlich nicht hinterher hinken:
im Rahmen der bedarfsorientierten Nachmittagsbetreuung soll ein besonderer Fokus auf Förderung der musisch-kreativen Fächer und Sport – auch in Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen – erfolgen;
Und weil es so schön war, ein letztes Mal bei der Mittelstufe:
ganztägige bedarfsorientierte Betreuung und Förderung in Abstimmung mit außerschulischen Einrichtungen (Jugendgruppen, Sportvereine, Musikvereine etc.)
Ein durchaus positiver Ansatz. Der Haken ist: Was heißt bedarfsorientiert? Wenn es in einem Vorarlberger Tal nur eine Handvoll alleinerziehender Mütter gibt, die auf Betreuungsangebote angewiesen sind, damit sie überhaupt einen Job finden, ist das schon ein Bedarf? Und was ist eigentlich mit Unter-Drei-Jährigen? Darf es da keinen Bedarf geben? Oder gibt es für die keine Bildung?
Zudem fehlt mir überall das Wort “Qualität”. Dieses Wort kommt übrigens im gesamten Bildungskonzept erst auf der allerletzten Seite im vorletzten Absatz das erste und einzige Mal vor.
Was die ÖVP unter “bedarfsorientiert” verstehen könnte findet sich zum ersten Mal im Abschnitt über die Volksschule:
integrative Sprachschule bedeutet verpflichtende Sprachförderung am Nachmittag für Kinder mit sprachlichen Defiziten;
Und im Abschnitt zur Mittelstufe findet sich eine ähnliche Überschrift:
für Schülerinnen und Schüler, die den notwendigen Lernerfolg nicht erbringen, wird ein Förderangebot am Nachmittag verpflichtend;
Ich werde das Gefühl nicht los, dass Teile der ÖVP die Ganztagsschule als Regelschule wollen, sich aber nicht gegen den internen Widerstand (Stichwort “Zwangstagsschule”) durchsetzen konnten. Wenn Schüler mit Sprachdefiziten verpflichtenden Zusatzunterricht am Nachmittag erhalten, so klingt das für mich wie “Nachsitzen”. Wo bleibt da eigentlich die Begabtenförderung, die sich die ÖVP ja so gerne auf die Fahnen schreibt? Warum nicht einfach für alle Schüler verpflichtenden Zusatzunterricht am Nachmittag mit innerer Differenzierung?
Gesamtschule, Neue Mittelschule, Gymnasium
Kommen wir zu einem der größten Streitpunkte der beiden Koalitionsparteien. Soll es weiterhin eine Differenzierung ab dem 10. Lebensjahr geben oder kommt die Gesamtschule bis zum 14. Lebensjahr. Im ÖVP-Bildungskonzeptkonzept liest man dazu:
Geprägt vom Prinzip der Durchlässigkeit darf es keinen Abschluss ohne Anschluss geben.
Die Schule soll keine Entscheidung über die Bildungslaufbahn vor dem 14. Lebensjahr vorgeben.
Das klingt ja so, als ob die ÖVP endlich die Meinung fast aller Experten übernommen hätte und die Differenzierung im 10. Lebensjahr endlich aufgeben würde. Doch was lese ich weiter unten im Abschnitt über die Mittelstufe?
Gymnasium und die Mittelschule sind zwei gleichwertige Säulen für die 10- bis 14-jährigen;
beide Schultypen sind in sich leistungsdifferenziert. Die Form der Leistungsdifferenzierung wird am Schulstandort bestimmt;
durch einen gemeinsamen Fächerkanon und Bildungsstandards wird die volle Durchlässigkeit zwischen der Mittelschule und dem Gymnasium Unterstufe gewährleistet
Alles gut und schön. Doch wozu brauchen wir dann noch die Differenzierung in Gymnasium und Neue Mittelschule, wenn beide gleichwertig sind, beide eine innere Leistungsdifferenzierung haben, beide die gleichen Zugangsvoraussetzungen haben und der Fächerkanon auch ident ist?
“Ich, ich, ich – ich weiß es (handheb)!” Damit wir weiterhin Bundes- und Landesschulen haben, in die die Landesfürsten ordentlich hineinregieren können. Denn die Neuen Mittelschulen sollen ja aus den bestehenden Hauptschulen hervorgehen und die Gymnasien sollen Gymnasien bleiben. Es geht also doch nicht um das Wohl des Kindes, sondern um bloße politische Macht.
Im Abschnitt über die Volksschule liest man zudem:
ohne positive Bildungsempfehlung ist ein Übertritt in die Mittelstufe nicht möglich.
Sowohl für NMS als auch für AHS ist also eine positive Bildungsempfehlung erforderlich. Was aber machen wir mit Schülern, die diese positive Bildungsempfehlung nicht bekommen? Sonderschule? Fortsetzung der Volksschule? Wie ist das mit dem Grundsatz “kein Abschluss ohne Anschluss” vereinbar? Fragen über Fragen…
Als Abschluss für die Mittelstufe in allen Schultypen soll es eine mittlere Reife geben, die Voraussetzung für den Übertritt in höhere Schulen ist:
mittlere Reife in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und in einer lebenden Fremdsprache sowie zwei weiteren Schwerpunktfächern bzw. jeweils einem weiteren Kern- und Schwerpunktfach am Ende der Mittelstufe als Voraussetzung für den Aufstieg in die Angebote der Oberstufe (AHS-Oberstufe, Oberstufenrealgymnasium, BHS, Lehre mit Maturaschule);
Ein interessanter Ansatz. Das kann man sicher diskutieren.
Oberstufe
Zur Oberstufe fiel der ÖVP nicht allzu viel ein. Vor allem fehlt es wieder einmal an einem schlüssigen Konzept an der Schnittstelle höhere Schule zur akademischen Bildung. Als Beispiel möchte ich zwei Zitate herausgreifen:
spezielle Förderung beruflich verwertbarer Fähigkeiten;
Kooperationen mit der Wirtschaft und dem tertiären Bildungssektor verstärken;
Oh je! In Zukunft wird die Wirtschaft die Lehrpläne bestimmen. Ausbildung statt Bildung wird diese Lehrpläne bestimmen. Wer nach der Schule studieren möchte, wird also ordentlich Stoff nachholen müssen. Gleichzeitig wird die Halbwertszeit des an der Schule erlernten Wissens drastisch reduziert. Die Wirtschaft will sich die Berufsausbildung sparen und so sparen wir bei der Bildung der Jugendlichen.
Fazit
Positiv ist zu beurteilen, dass die ÖVP nun endlich auch einen Standpunkt zur künftigen Bildungspolitik hat, auch wenn dieser bei weitem nicht ausgereift ist. Positiv ist auch das verhaltene Bekenntnis zur Neuen Mittelschule und zu ganztägigen Schulformen. Wie sich die ÖVP aber genau diese ganztägigen Schulformen vorstellt, weiß ich nach Lektüre des Konzeptkonzepts immer noch nicht genau. Und worin genau der Unterschied zwischen Gymnasium und Neuer Mittelschule liegen soll, weiß wohl nicht einmal die ÖVP selbst.
Warum ausgerechnet die ÖVP so wenig Ansätze zur Begabtenförderung hat (Begabtenförderung kommt das erste Mal im Abschnitt zur Oberstufe und da auch nur einmal vor), zeigt mit welch heißer Nadel das Konzept gestrickt wurde. Auch den künftigen Stellenwert von Privatschulen vermisst man in dem Papier völlig.
Da wundert es auch kaum noch, dass Bildung bei der ÖVP erst mit 3 Jahren beginnt und mit der Matura aufhört. Ist ja nur logisch, denn angesichts der Finanzmisere an den Universitäten, können die ohnehin bald keine Lehre mehr anbieten.
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